So gelingt eine erfolgreiche Nutri-Score Optimierung für Ihr Produkt
Seit 2020 können Hersteller mit dem Nutri-Score in einfach verständlicher Art und Weise die...
Das Traditionsunternehmen Ricola kreiert einen innovativen Kräuterdrink und setzte dabei auf Design Thinking und agile Methoden in der sensorischen Konsumentenforschung. Das Ungewöhnliche: Wichtiger als der Erfolg des Produkts ist den Initiatoren der Lernprozess.
Vor jeder Person stehen vier kleine Pappbecher, gefüllt mit verschiedenen Flüssigkeiten. Die Farben changieren von gelb bis dunkelrot. Sechs Freunde nippen an den vier Drinks, alkoholfreie Erfrischungsgetränke auf Kräuterbasis. Die Aufgabe: Das Getränk herauszusuchen, das am besten schmeckt.
„Puh, geht gar nicht“, kommentiert der eine. „Ungewöhnlich, erfrischend“, der nächste. „Kannst du nachschenken?“, fragt die dritte lachend. Zum Abschluss des Tests stehen die Gewinner-Drinks in der Mitte des Tisches. Ein Drink wurde gleich fünfmal zum Sieger gekürt: der Herbling von Ricola.
Neuer Kräuterdrink: Schmeckt unter Freunden. Aber wie schneidet er unter Laborbedingungen, mit wissenschaftlichen Methoden und im Vergleich zur Konkurrenz ab? (Bild: Fabienne Hübener)
Doch was bei ein paar Freunden an einem lauen Sommerabend gut ankommt, ist nicht automatisch ein Produkt, das sich auf dem Markt behaupten kann. Die Konsumenten sind anspruchsvoll, Geschmäcker verschieden, die Konkurrenz groß und Trends flüchtig. Kann man überhaupt bestimmen, wie ein Drink schmecken sollte, damit er eine Chance auf Erfolg hat?
„Ja, das können wir“, antwortet darauf Robert Möslein, Managing Director von isi. Er und sein Team erforschen seit drei Jahrzehnten, wie sich die Wünsche der Konsumenten mit den Ideen der Hersteller zusammenbringen lassen. Das wissen die Unternehmen und kommen daher auch gerne mal mit anspruchsvollen Anfragen auf isi und Robert Möslein zu.
Eine dieser Anfragen stammte von Ricola. Das Familienunternehmen mit Sitz im schweizerischen Laufen ist bekannt für seine Kräuterbonbons. Die Rezeptur für den Schweizer Kräuterzucker – eine Mischung aus 13 Kräutern – hat sich in 80 Jahren nahezu nicht verändert. Ideen für gewagte neue Kreationen müssen sich bei diesem traditionsreichen Unternehmen besonders kritischen Blicken stellen.
Erfolgreiches Traditionsprodukt. Neue Produkte aus dem Hause Ricola dürfen die Marke nicht beschädigen. (Bild: Ricola)
Die Idee für das neue Produkt stammte vom Ricola Innovationsteam unter der Leitung von Tatjana Nebel, Director Innovation Sustainability and Future Innovation. Die Vision des Teams: Wir gehen bewusst ein Risiko ein, nutzen neue Wege und das Wichtigste ist für uns der Lernprozess. Ganz nach dem Prinzip „build, test, learn“. Mit an Bord holte das das Team unter anderem das schwedische Lernerfahrungsunternehmen Hyper Island, eine Künstlerin aus Portugal und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Tatjana Nebel hat im Podcast von SwissICT über die Hintergründe des Projekts gesprochen: Hier gehts es zur Folge.
Für Linas Buntinas, Sensorikforscher und Produktentwickler bei Ricola, war dies Herausforderung und Inspiration zugleich. Der Manager hat Erfahrung in der Produktentwicklung bei Größen wie Nestlé, Pepsi Cola und Mars gesammelt. „Wir wollten mal eine andere Art von Produkt ausprobieren, eine Innovation – natürlich auf Kräuterbasis. Da sind wir bei der Ideensammlung schnell auf Kräuterdrinks gekommen“, berichtet der Sensorikspezialist. Buntinas und seinem Entwicklungsteam schwebte eine Art gesunder, alkoholfreier Aperitif vor.
Das Team kreierte daraufhin verschiedene Drink-Variationen und lud zunächst Mitarbeitende, Nachbarn und Freunde zum Tasting ein. „Das lief ganz informell. Wir wollten schnell und unkompliziert auf die richtige Fährte kommen“, betont Buntinas. Der Anspruch der Testenden an den Drink kristallisierte sich immer weiter heraus. Es sollte gesund schmecken, alkoholfrei sein, nicht so süß und man sollte Lust haben, ihn mit Freunden zu trinken. Mithilfe von agilen Methoden aus dem Design Thinking verfeinerte das Team die Prototypen immer weiter, bis schließlich nur noch eine Handvoll Variationen übrigblieb. Nun war es an der Zeit, die Finalisten mit wissenschaftlichen Methoden unter die Lupe zu nehmen.
100 Versuchspersonen, standardisierte Umgebung, erfolgreiche Drinks der Mitbewerber – im isi-Labor wird nichts dem Zufall überlassen. (Bild: Mirko Phla)
Auf der Suche nach einer Agentur für sensorische Konsumentenforschung stößt Linas Buntinas schnell auf isi. „Wir wollten keine aufgeblasene Methodik, keine große Anzahl von Test-Teilnehmern, sondern in kurzer Zeit so viel wie möglich über das Produkt erfahren – natürlich mit robuster Wissenschaft und Statistik dahinter“, berichtet der Linas Buntinas.
Was Buntinas und isi verbindet, ist das Verständnis dafür, dass Produktentwicklung ein flexibler Prozess ist. Der Weg kann sich je nach neuer Erkenntnis und Feedback der Konsumenten ändern. „Das ist eine Entdeckungsreise, bei der man bereit sein muss, schnell etwas zu verändern und in der man akzeptieren muss, dass man das Ziel noch nicht kennt“. Wichtige Fragen für Ricola waren unter anderem: Was sind die Merkmale, die zu einem guten sensorischen Erlebnis führen? Welche Noten im Drink sollen wir behalten, welche weglassen? Wo steht unser Produkt im Vergleich zu den Konkurrenten? Welche Verpackung passt zu dem Produkt?
Nach wenigen Wochen Vorbereitungszeit führt das isi-Team in nur zwei Tagen die passenden Konsumententests durch, um diese Fragen zu beantworten. Das Team lässt im isi-Labor in Göttingen 12 verschiedene Drinks von 100 Personen verkosten. Süße Limonaden, Eistees und fermentierte Getränke sind darunter, und eben drei Varianten des Ricola-Drinks.
Auch das Design der Flasche geht mit in die Konsumententests im isi-Labor ein. (Bild: Fabienne Hübener)
Die Verkostung erfolgt blind, also ohne, dass die Versuchspersonen die Marke oder die Flasche sehen. In einem anschließenden Test fragte das isi-Team auch noch nach dem bevorzugten Flaschendesign. Parallel dazu analysierte eine Gruppe erfahrener Geschmackstestende – das so genannte sensorisches Panel – Aussehen, Geruch, Geschmack und Nachgeschmack. Rötlich, bräunlich, fermentiert oder krautig, süß oder bitter, erdig oder fruchtig sind beispielsweise Attribute, auf die die Testenden achten.
Mithilfe all dieser Ergebnisse kreiert das isi-Team eine sensorische Landkarte. Sie gibt zum Beispiel Auskunft darüber, welche Proben nahe beieinanderliegen und welche Aspekte der Drinks in jenem „sweet spot“ liegen, der bei den meisten Menschen gut ankommt. Die isi-Statistikerinnen und Statistiker gehen noch weiter ins Detail und untersuchen in einer Segmentierungsstudie, ob der Ricola-Drink möglicherweise bei einer Untergruppe der Versuchspersonen besonders erfolgreich ist. Zudem steht dem isi-Team aus vielen vorhergehenden Untersuchungen mit Erfrischungsgetränken ein Vergleichsmaßstab zur Verfügung.
„Die isi-Benchmark ist eine Art Thermometer, das dem Hersteller zeigt, ob er auf der richtigen Spur ist“, erklärt Robert Möslein. Liegt ein Getränk über der Durchschnittsbewertung in dieser Getränkekategorie kann der Hersteller davon ausgehen, dass sein neues Getränk am Markt erfolgreich sein wird.
Agile Produktentwicklung, was heißt das eigentlich?
In iterativen Schritten werden die Prototypen immer wieder getestet und an die Ergebnisse angepasst. Dabei werden nicht nur klassische Marktforschungsansätze angewandt, sondern auch agile Methoden wie z. B. Design Thinking. Der Vorteil: Feedback von Konsument*innen wird bereits früh in den Entwicklungsprozess einbezogen und die Prototypen werden zielgerichtet optimiert.
Zu Buntinas Überraschung sticht in den Tests eine Variation heraus, deren Geschmack Buntinas als „einzigartig“ und „nicht unbedingt als mein persönlicher Favorit“ beschreibt. Und noch etwas anderes verblüfft den Produktmanager. Im Vergleich zu Mitbewerbern schneidet der neue Ricola-Drink eher schlecht ab. „Was für ein furchtbares Ergebnis, möchte man meinen. Aber unsere Haltung war: Hauptsache, wir haben was dabei gelernt“, berichtet der Produktentwickler.
Für Robert Möslein zeigen die Ergebnisse, wie wichtig unabhängige Konsumententests und Vergleiche mit Konkurrenzprodukten sind. Viele Hersteller testen ihre neuen Kreationen nur gegen eigene Produkte. Zudem sind die Hersteller gegenüber Ihrem Produkt oft positiv voreingenommen. Das kann sich in der Testauswahl und der Datenanalyse widerspiegeln. Dann stimmt vielleicht das Ergebnis der Konsumententests mit den Erwartungen des Entwicklerteams überein. Die Markteinführung kann aber eine kostspielige Enttäuschung werden.
Linas Buntinas und das Ricola-Innovationsteam nehmen die Ergebnisse der isi-Konsumentenforschung mit in die weitere Produktentwicklung. In der nächsten Runde schneiden die neuen Prototypen tatsächlich deutlich besser ab. Was wurde verändert? Ein Beispiel ist die Süße. Konsumenten ziehen im Geschmacksvergleich eher süßere Drinks vor – auch wenn sie betonen, dass sie aus gesundheitlichen Gründen zuckerarme Drinks bevorzugen würden. Dieses Paradox löst Ricola mit einigen Tricks, die in der sensorischen Wissenschaft gut bekannt sind. Statt Zucker kommt mehr Geschmack in den Drink. Das geschieht etwa über die Auswahl der Beeren-Art oder das Hinzufügen von Vanille. Menschen nehmen eine Speise oder ein Getränk als süßer war, wenn sie gleichzeitig Vanille riechen.
Eine weitere Herausforderung war der Wunsch von Ricola und der Anspruch der Konsumenten, dass das Getränk „gesund“ schmecken solle. Das gelingt mithilfe von Kombucha. Kombucha entsteht bei der Fermentierung gesüßten Tees und bringt einen Geschmack von Fermentierung mit in den Drink.
Nun wagt Ricola einen weiteren Schritt und lässt die Konsumenten über ein Crowdfunding mit am Entwicklungsprozess teilhaben. Über soziale Medien verbreitet das Unternehmen, dass sie kurz vor dem Launch eines einzigartigen Kräuterdrinks aus dem Hause Ricola stehen. Wer Interesse hat, kann die Produktentwicklung unterstützen und erhält anschließend als einer der ersten den fertigen Drink. „Das sind Fans von Ricola, die stolz sind an der Weiterentwicklung eines Produkts beteiligt zu werden“, berichtet Buntinas.
So wirbt Ricola auf crowdify.net um Tester für den Vorverkauf für besonders Interessierte von vier Varianten des neuen Drinks: Lemon, Berry, Mint und Natural. In der Branche sorgt dieser innovative Ansatz eines Schweizer Traditionsunternehmens für Erstaunen und mitunter Kritik.
Crowdfunding-Kampagne für den Herbling.
Moderne Produktentwicklung bezieht die Konsumenten
mit in den Entwicklungsprozess ein. (Bild: Ricola)
Doch weder das Innovationsteam bei Ricola noch Linas Buntinas lassen sich dadurch aus der Ruhe bringen. Wenn eine innovative Idee sofort jedem gefällt, stimmt etwas nicht. In den sozialen Medien tauchen dann Ende 2021 die ersten Bilder der Herbling-Flaschen auf und die Tester sind – ähnlich wie die oben beschriebene Freundesrunde – begeistert. Letztere mixen zu späterer Stunde den Ricola Herbling mit Rosé und Eiswürfeln und funktionieren so den Aperitif zu einem Cocktail um.
Lädt zum Experimentieren ein: Herbling on the rocks mit Rosé. (Bild: Fabienne Hübener)
Trotzdem entscheidet sich das Ricola-Team nach eingehender Analyse aller Daten, den Herbling vorerst nicht auf den Markt zu bringen. „Wir haben unser erstes Ziel mit dem Herbling erreicht, erklärt Linas Buntinas. Wir haben gelernt, wie wir in Kürze, günstig, mithilfe der Crowd und mit agilen Methoden der sensorischen Konsumentenforschung ein innovatives Produkt herstellen. Normalerweise dauert ein solcher Prozess Jahre und schießt daher schonmal am schnelllebigen Konsumentengeschmack vorbei. Ob der Herbling noch weiterentwickelt wird oder sich ein anderer Ricola-Aperitif anschickt, den Markt zu erobern, will Linas Buntinas nicht verraten. Eines ist sicher: Die Neugier auf einen neuen Ricola-Drink ist geschürt.
Dr. Fabienne Hübener ist freie Wissenschaftsjournalistin und hat sich auf die Sinne und die sensorische Forschung spezialisiert. Sie schreibt seit 2017 für uns auf unserem Blog.
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